Von Priska Burkhard, Peter Kosel, Eike Stratmann, Maria Sommerhalder
Die IT-Industrie in der Schweiz befindet sich in einer dynamischen Wachstumsphase. Der sogenannte ICT Index, der alle drei Monate eine Entwicklungsprognose der verschiedenen Geschäftsbereiche der Schweizer ICT Branche durchführt, lag im vierten Quartal 2024 bei 105,3 Punkten. Ein Skalen-Wert über 100 Punkte entspricht einer positiven Branchen-Stimmung. Quelle: Schweiz – ICT Index-Wert 2024 | Statista. Laut diesen Daten floriert der Markt und zeigt eine stetige Nachfrage nach qualifizierten IT-Expert*innen.
Diese positive Entwicklung schafft zahlreiche Arbeitsplätze und bietet vielfältige Karrieremöglichkeiten für Fachkräfte. Unternehmen stehen im Wettbewerb um qualifizierte Talente, während die Anforderungen und Erwartungen an IT-Expert*innen kontinuierlich steigen. Der Fachkräftemangel-Index Schweiz zeigt, dass der Bedarf an Fachkräften in der IT-Branche höher bleibt als vor der Pandemie, trotz einer rückläufigen Tendenz in den meisten Berufsgruppen.
Aber was sind die wahren Ursachen des sogenannten Fachkräftemangels? Oder gibt es tiefere, firmeninterne Probleme, die dazu führen, dass Arbeitgebende nicht die passenden Mitarbeiten- den finden? Unsere Expert*innen geben Einblicke in dieses Thema.
Praktische Checkliste zur Gewinnung und Bindung von Talenten
Wir möchten Ihnen eine praktische Checkliste an die Hand geben. Diese enthält die wichtigsten Weisheiten und Empfehlungen aus dem Interview, die Ihnen helfen können, Talente erfolgreich zu gewinnen und zu binden.
- Proaktiver Talent-Funnel und Netzwerkaufbau: Behandeln Sie HR wie Sales, setzen Sie die notwendigen zielführende Kennzahlen und berichten Sie regelmässig im Management-Meeting über den Stand der Mitarbeitenden-gewinnung. Fördern Sie die Teilnahme an Events, um sich mit wichtigen Communities zu vernetzen und Talente frühzeitig zu identifizieren.
- Mut bei der Bewertung und Flexibilität bei Zertifikaten: Führen Sie Interviews mit Kandidat*innen, die nicht alle Anforderungen erfüllen, um deren Potenzial besser einschätzen zu können. Achten Sie nicht nur auf formale Zertifikate, sondern auch auf praktische Erfahrung und Wissen.
- Mentoring-Programme und Weiterbildungsmöglichkeiten: Implementieren Sie ein Programm, bei dem erfahrene Mitarbeitende neue Talente unterstützen und einarbeiten. Bieten Sie kontinuierliche Weiterbildung und Entwicklungsmöglichkeiten an, um Mitarbeitende zu motivieren.
- Realistische Jobbeschreibungen: Überarbeiten Sie Jobbeschreibungen, damit sie realistisch und klar formuliert sind. Stellen Sie sicher, dass die Kommunikation mit der Linie gewährleistet ist.
- Kultur der Wertschätzung: Fördern Sie eine Unternehmenskultur, die Wertschätzung, Anerkennung und Zugehörigkeit betont. Mitarbeitende wollen sich gesehen und gehört fühlen.
Fachkräftemangel und dessen Entstehung
Maria Sommerhalder (MS): Fachkräftemangel wird oft als externes Problem betrachtet. Gibt es auch interne Herausforderungen für Unternehmen?
Priska Burkard (PB): Schweizer Firmen sehen sich zunehmend mit Konkurrenz aus den USA konfrontiert. Grosse amerikanische Unternehmen wie Google, Amazon und Microsoft bieten überdurchschnittliche Gehälter, was es kleineren Firmen erschwert, Spezialist*innen zu akquirieren. Es besteht auch die Gefahr, dass Bewerbende aus diesen Firmen gar nicht berücksichtigt werden, da HR-Kräfte davon ausgehen, deren Gehaltsvorstellungen nicht erfüllen zu können.
Internationale Unternehmen tragen also dazu bei, dass andere Unternehmen dem Fachkräftemangel noch mehr ausgesetzt sind. Gibt es aber eurer Meinung auch selbstverschuldete Tendenzen von Schweizer Firmen, welche sie für Talente unattraktiv machen und die Situation verschlimmern?
PB: Dazu gehört sicherlich der sogenannte ‹Paper Ceiling›. Viele Unternehmen legen hohen Wert auf formale Abschlüsse und Zertifikate, anstatt die tatsächliche Expertise und Erfahrung der Bewerbenden zu berücksichtigen. Dies führt dazu, dass viele talentierte Fachkräfte, die vielleicht nicht die ‹richtigen› Papiere haben, aber dennoch über die notwendigen Fähigkeiten durch Erfahrung verfügen, gar nicht erst in den Bewerbungsprozess aufgenommen werden.
Administrative Prozesse im HR und den Mut zur Handlung
Peter Kosel (PK): Bevor wir über den Fachkräftemangel reden, wollen wir über die Situation in den Firmen sprechen. Anstatt proaktiv Talente zu gewinnen, werden Prozesse «abgearbeitet». Ausserdem: Die Prozesse sind oft zu langsam und ineffizient, was dazu führt, dass Top-Kandidat*innen abspringen, bevor sie eingestellt werden: Es sollte zum Beispiel nicht 1-2 Wochen dauern, bis ein Arbeitsvertrag aufgesetzt ist. Bereits in der zweiten oder dritten Interviewrunde soll der Vertrag vorbereitet und ausgehändigt werden können. Solange wir die internen Probleme nicht lösen, brauchen wir uns nicht über den Fachkräftemangel zu be- schweren.
Eike Stratmann (ES): Des Weiteren fehlt es oft HR-seitig an Wissen darüber, was in den Fachabteilungen wirklich benötigt wird und wie die Erfahrungen der Stellensuchende einzuschätzen sind. Eine engere Zusammenarbeit zwischen HR-Fachkräften und der Linie kann hier Abhilfe schaffen. Je mehr Informationen geteilt werden, desto einfacher ist eine effektive Zuordnung und Einschätzung der Profile.
PK: Der Mindset im Bereich Talent Acquisition sollte gleich sein wir im Sales-Team – am besten arbeiten diese Einheiten im Tagesgeschäft eng zusammen und lernen voneinander – auf beiden Seiten ist unter anderem Relationship-Management und Abschlusskompetenz gefragt. Wie führe ich einen potentiellen Kandidaten/Kunden in die Anstellung/ den Abschluss? Ein Beispiel: Wir hatten einen Top-Kandidaten mit ETH-Abschluss und Erfahrung im Penetration Testing. Trotz seines Potenzials wurde das erste Interview mit ihm erst 3 Wochen nach Einreichung des CVs terminiert – dies wirkt ineffizient und abschreckend. Würde ein Sales-Team so agieren wären die Kunden stark abgeschreckt und würden es bevorzugen bei anderen Firmen zu kaufen. So ist es dann auch bei den Bewerbenden. In vielen HR-Abteilungen arbeiten Personen, die vom Typ her eher Buchhalter*in statt Kandidatengewinner*innen sind: sie schreiben lieber E-Mails, statt den Hörer in die Hand zu nehmen und den «Deal» abzuschliessen. Es braucht proaktive Personen, die wissen, wie man die besten Talente aktiv gewinnt.
ES: Dies erfordert auch eine gewisse Passion seitens HR-Personal: Statt Dienst nach Vorschrift sollten sie für das Thema brennen und auch mal Rekrutierungsevents besuchen, neugierig sein und sich vernetzen. Recruiter sollen fähig sein, die gefragten Kompetenzen des Fachbereichs am Markt abzuholen.
PK: Die Beziehung zu potentiellen Kunden wird leider oft höher eingestuft als die zu potentiellen Mitarbeitenden, obwohl es sie sind, die den Wert generieren und unter anderem auch die Kunden der Zukunft gewinnen und betreuen.
Neben den administrativen Herausforderungen im HR gibt es unrealistische Erwartungen an die Bewerbenden. Viele Unternehmen suchen die sogenannte ‹eierlegende Wollmilchsau›, was die Rekrutierung zusätzlich erschwert. Was genau sind die Probleme, die wir angehen sollen?
PB: Stellenbeschreibungen sind oft zu breit gefasst und vereinen mehrere Rollen in einer Position, was es schwierig macht, geeignete Kandidat*innen zu finden. HR-Abteilungen haben oft nicht die Fachkompetenz, um realistische Stellenbeschreibungen zu erstellen bzw. die Linie bei der Erstellung fachkundig zu unterstützen. Es werden so viele Anforderungen wie möglich in eine Stelle gebündelt. Die Logik dahinter ist, dass sich dann hoffentlich mehr Leute bewerben. Natürlich passiert dann genau das Gegenteil: Bewerber*Innen erfüllen die Kriterien nicht vollständig und bewerben sich dann nicht.
ES: Rekrutierende kennen oft die Anforderungen nicht genau und bekommt von der Linie nur vage Vorgaben. Es sind die Rekrutierende, die mit den Kandidat*innen direkt im Austausch sind aber nicht im Business eingebunden und daher die Anforderungen nicht richtig bewerten können.
PB: Ich bin der Meinung, dass Stellenbeschriebe generell überbewertet sind. Vor allem, wenn man die gesuchte Erfahrung in den Beschreibungen anschaut, sind die meist unrealistisch: die Informatik ist so schnelllebig. 10 Jahre Erfahrung in einem Themenfeld vorzuweisen, dass es noch nicht mal 10 Jahre gibt, ist gar nicht möglich. Statt langjähriger Erfahrung sollte der Fokus mehr auf übertragbare Skillsets gelegt werden, zum Beispiel schnelle Auffassungsgabe, Lernbereitschaft, Agilität. Technische Fähigkeiten lassen sich lernen.
Die Suche nach der vermeintlich perfekten Besetzung führt oft dazu, dass Stellen lange Zeit unbesetzt bleiben. Inwiefern ist dies für Firmen ein Nachteil?
PB: Vor allem im Security Bereich ist dies ein grosses Risiko. Unternehmen, die sich die Zeit lassen auf den oder die perfekte Kandidat*in zu warten, riskieren Opfer von Cyberangriffen zu werden. Ein Beispiel verdeutlicht dies: Ein Unternehmen wurde zweimal angegriffen, weil die relevante Stelle zu lange unbesetzt war und es aus dem ersten Vorfall nicht gelernt hatte. Durch eine Ransomware-Attacke waren alle Systeme blockiert und das Unternehmen musste eine erhebliche Summe in Bitcoin zahlen, um wieder Zugriff zu erhalten.
PK: Unternehmen unterschätzen zudem die Kosten, die durch unbesetzte Stellen in diesem Bereich entstehen. Diese «Cost of Vacancy» umfasst nicht nur direkte Kosten einer offenen Stelle, sondern auch Opportunitätskosten, Produktivitätsverluste und erhöhte Cybersicherheitsrisiken. Eine unbesetzte Cybersicherheits-Position erhöht das Angriffsrisiko erheblich. Viele Unternehmen schenken dieser Betrachtungsweise zu wenig Beachtung. Ein erhöhtes Angriffsrisiko aufgrund einer unbesetzten Stelle im Bereich Cyber Security ist mindestens genauso tragisch wie der entgangene Umsatz und die unterlassene Kundenpflege aufgrund einer unbesetzten Sales-Position. Die Frage ist, ob das die Geschäftsleitung genauso sieht, und sie verstehen, dass im Falle eines Cyberangriffs das gesamt Unternehmen ruiniert sein kann. Unternehmen sollten die «Cost of Vacancy» aktiv managen und die breiteren Auswirkungen auf die Organisation berücksichtigen. Diese Kennzahl sollte im Management an Relevanz gewinnen, um das Bewusstsein und die damit verbundenen Kosten für unbesetzte Stellen zu erhöhen und die Cybersicherheitsrisiken zu minimieren.
Ein weiteres wichtiges Thema ist das der Diversität. Es besteht noch viel unausgeschöpftes Potential, vor allem auch bei weiblichen Talenten. Wir haben vor diesem Interview kurz angesprochen, dass der Begriff der Diversität oft falsch definiert wird.
ES: Ja, Diversität wird oft fälschlicherweise auf Geschlechter reduziert, dabei umfasst sie viele Dimensionen: Herkunft, Intro-/Extroversion, Neurodiversität, kultureller Hintergrund und Erfahrungen.
PB: Diversität bedeutet auch unterschiedliche Ansichten und Problemlösungsansätze. Es erfordert Offenheit, denn die Arbeit in einem diversen Team ist nicht immer einfach. Dies zahlt sich jedoch durch Wachstum, Produktivität und neue Ideen aus. Interdisziplinarität ist ebenfalls wichtig, wenn verschiedene Fachrichtungen wie Sicherheit, Entwicklung und Forensik zusammenarbeiten, um innovative Lösungen zu finden. Diese Zusammenarbeit ermöglicht es, ‹out of the box› zu denken und durch unterschiedliche Lösungsansätze einen Vorsprung zu gewinnen.
Wie kann man die Vielfalt im Unternehmen fördern?
ES: Wie besprochen kommen viele geeignete Talente gar nicht erst durch den Bewerbungsprozess, wenn sie nicht bestimmte Zertifikate oder einen spezifischen Universitätsabschluss haben. Oft fehlt der Mut, Kandidat*innen einzuladen, die nicht alle formalen Anforderungen erfüllen, aber vom Profil her spannend wären. Es ist wichtig, auch solchen Personen eine Chance zu geben, bei denen nicht alle Boxen abgehakt sind, zum Beispiel Autodidakt*Innen oder Quereinsteiger*Innen. Wenn man von Anfang an mit dem Filterkriterium «passende Zerti-fikate» sucht, wird man die richtigen Leute nicht finden.
PB: Zu Beginn kann man Diversität forcieren, um den Prozess in Gang zu bringen, aber das ist kein nachhaltiger Ansatz. Quoten können zwar Bewegung in die Sache bringen, doch wichtiger ist es, die eigenen HR-Abläufe zu analysieren und zu verstehen, an welchen Stellen im Prozess Minderheiten ausscheiden. Um es am Beispiel der Frauen auszudrücken: Wissen die Firmen, wie viele Frauen sich überhaupt bewerben? Fallen sie schon beim ersten Screening heraus, nach der ersten oder zweiten Interviewrunde oder beim Entscheid der Manager*in? Und wie lange bleiben sie im Unternehmen? Mit diesen Kennzahlen können gezielte Massnahmen ergriffen werden.
Wie akquiriert und behält man Talente?
PK: In der Rekrutierung ist es wie überall im Leben, wenn man viel verspricht, muss man das auch halten können. Es geht um Vertrauen. Der Beziehungsaufbau zu einem zukünftigen Mitarbeitenden gut zu durchdenken und vor allem in der Praxis gelebt sein. Kandidat*innen die heute nicht in die Anstellung finden, können eventuell in 2 Jahren wieder interessant sein. Wie wird die Beziehung bis dahin gepflegt? Im Sales ist es normal das Kunden manchmal über mehrere Jahre betreut werden, bis der erste Deal stattfindet. Immer wieder präsent sein und durch stetige Pflege den richtigen Zeitpunkt erwischen, um den/die Kandidat*in zum neuen Mitarbeitenden zu konvertieren.
Das kann HR allein nicht stemmen. Oftmals ist HR mit Administration zu ausgelastet und findet zu wenig Zeit sich auf solche intensiven Beziehungsaktivitäten zu kümmern.
PB: Sind die neuen Mitarbeitenden dann gewonnen, ist ein gut begleitetes und organisiertes Onboarding das Wichtigste. Dazu kommt die Unterstützung durch Kollegen*innen, welche besonders für Quereinsteiger*innen wichtig ist. Für Mitarbeitende sind Weiterbildungsmöglichkeiten essenziell und werden idealerweise vom Unternehmen gefördert. Es ist wichtig, den Mitarbeitenden nicht nur Weiterbildungen zu ermöglichen, sondern auch sicherzustellen, dass sie die Kapazität dafür haben. Beispielsweise sollte eine leitende Funktion die Übersicht haben, was die Teammitglieder gerade lernen, und sie bei anstehenden Trainings proaktiv im Projektgeschäft entlasten.
ES: Eine starke Unternehmenskultur ist entscheidend, um Talente zu gewinnen und zu halten. Es geht darum, eine Umgebung zu schaffen, in der sich Mitarbeitende wertgeschätzt fühlen. Dies umfasst zum Beispiel flexible Arbeitszeiten und eine Atmosphäre der Familiarität: also das Gefühl, mit Freunden zu arbeiten. Weitere Faktoren sind interessante Projekte und gut geführte Teams, in denen Manager den Freiraum, das Interesse und die Zeit haben, sich um die Mitarbeitende zu kümmern. Natürlich ist das Salär ein Punkt, aber bei der Mitarbeitendenbindung und dem Aufbau von Loyalität zählen vor allem andere Faktoren: Mitarbeitende einbinden, abholen und sicherstellen, dass sie gehört werden.
Das Interview beleuchtet die vielschichtigen Herausforderungen des Fachkräftemangels in der IT-Branche und zeigt Lösungsansätze auf. Durch eine inklusive Unternehmenskultur, mutige HR-Abteilungen und ein starkes Netzwerk können Unternehmen die besten Talente gewinnen und halten. Effektive Recruiter*Innen wissen, dass der Bewerbungsprozess oft auch ausserhalb offizieller Stellenausschreibungen stattfindet. Wer sich ein starkes Netzwerk aufbaut und pflegt, findet oft beiläufig auf Konferenzen oder Meetups geeignete Kandidat*innen. Was bedeutet dies also für Firmen? HR-Abteilungen wird eine proaktive Talentgewinnung empfohlen. Sie sollten aktiv Kontakte pflegen, an Events teilnehmen und gezielt nach Talenten suchen, anstatt nur Stellenanzeigen zu schalten und auf die richtigen Bewerbungen zu hoffen.